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Geschlechterreflektierte Pädagogik

mehr als ein Kampf gegen Windmühlen?
von Hilke Falkenhagen und Krischan Kahlert

„Geschlechterbewusste Pädagogik ist in mehrfacher Hinsicht ein Balanceakt: zwischen der Wahrnehmung von individuellen Unterschieden und dem Blick auf geschlechtstypische Muster und Strukturen; zwischen dem Bemühen um Chancengleichheit und einer möglichst breiten Persönlichkeitsentwicklung und dem Anerkennen vorhandener Geschlechterunterschiede ….“ (Rohrmann, 2012)

In meinem ersten Praktikum in der Kita überraschte mich folgende Beobachtung: Die Jungen wollten den ganzen Tag nur im Toberaum sein, während die Mädchen in der Puppenecke Prinzessinnen spielten. Die Mädchen hatten Interesse an Haushalts-Spielen, sie bügelten und kochten und beschäftigten sich mehrere Stunden damit. Die Jungen dagegen wollten kämpfen und Fußball spielen. Wie konnte es sein, dass sich die Kinder schon in diesem frühen Alter so geschlechterstereotyp verhielten? Entgegen meinem Vorsatz, Geschlechterrollen in Frage zu stellen und wenn möglich, zu dekonstruieren, musste ich zur Kenntnis nehmen, wie stark die Kinder selbst sich an ihnen orientierten und selbst aktiv an ihrer Konstruktion mitwirkten. Ist der Kampf gegen Geschlechterstereotype in der Kita also ein Kampf gegen Windmühlen?

Hierfür kann ein Blick in frühkindliche Entwicklungsprozesse interessant sein. Das biologische Geschlecht eines Kindes steht in der Regel schon im Mutterleib fest, die soziale Geschlechtsidentität beginnt spätestens mit der Geburt des Kindes eine Rolle zu spielen. Die wichtigste Frage bei der Geburt des Kindes ist auch heute noch oft: „Ist es ein Mädchen oder ein Junge?“ Mehr oder weniger bewusst entstehen bereits dadurch geschlechtsabhängige Erwartungen an das Kind. Durch die Zuordnung als männlich oder weiblich entscheiden sich viele Rahmenfaktoren im Leben des Kindes. Welchen Namen bekommt es? Wird das Kinderzimmer rosa oder blau angestrichen? Welche Kleidung wird dem Kind angezogen? Je nach Geschlecht wird Kindern ein bestimmtes Repertoire an Verhaltensweisen als richtig oder falsch widergespiegelt. Eigene Vorstellungen der Erwachsenen vom jeweiligen Geschlecht werden auf die Kinder projiziert. So beschreiben zum Beispiel Väter ihre neugeborenen Söhne als kräftig, Töchter mit gleicher Größe und gleichem Gewicht dagegen als zart.

Bereits im ersten Lebensjahr können Kinder Männer und Frauen unterscheiden: Mit 3 bis 6 Monaten anhand der Stimmen und mit 9 bis 12 Monaten anhand der Gesichter. Die ersten Unterscheidungen orientieren sich vorwiegend an äußeren Merkmalen, insbesondere an Haaren und Kleidung. Im weiteren Verlauf der Entwicklung bilden Kinder immer differenziertere Vorstellungen vom eigenen Geschlecht. Spätestens gegen Ende der Kindergartenzeit können sie geschlechtliche Zugehörigkeit anhand von biologischen bzw. anatomischen Merkmalen unterscheiden.

Im Alter von drei bis vier Jahren erkennen Kinder, dass ihre Geschlechtszugehörigkeit durch Wünsche, Gestaltung des äußeren Erscheinungsbildes oder geschlechtsuntypisches Verhalten nicht verändert werden kann, es also eine ‚Geschlechterkonstanz‘ gibt. Nachdem die Kinder nun wissen, dass sie einem Geschlecht angehören und sich das nicht mehr ändern wird, fangen sie an, sich gezielt an Verhaltensweisen zu orientieren, die ihrem Geschlecht zugeordnet sind. Die Kinder suchen sich in dieser Phase eher gleichgeschlechtliche Spielkameraden und bevorzugen geschlechtsspezifisches Spielzeug. Diese ‚Geschlechtertrennung‘ wird in den nächsten Jahren bis zur Pubertät deutlich ansteigen. Das Geschlecht übernimmt in dieser Phase eine wichtige Orientierungsfunktion für die Kinder, die Zuordnung zu einem Geschlecht gibt ihnen Sicherheit und ist Teil ihrer Identitätsbildung, Um die Bedeutung dieser Einordnung zu verstehen, brauchen wir uns nur die Situation von Menschen vorzustellen, die geschlechtlich nicht zuzuordnen sind in einer Gesellschaft, die nur zwei Geschlechter zulässt, kein Dazwischen kennt und auf eine eindeutige Zuordnung drängt.

In dem Maße, in dem Kinder sich dem ein oder anderen Geschlecht zuordnen, werden gleichgeschlechtliche Erwachsene als ‚Vorbilder‘ wichtig und stellen einen Wegweiser für die weitere Entwicklung dar. Eltern, Erzieher_innen, Freunde und Verwandte zeigen mit dem, wie sie ihre Geschlechterrollen leben und inszenieren, welche Möglichkeiten, Lebensweisen und Ausdrucksformen es geben kann, als Frau oder Mann in der Welt zu sein. Je vielfältiger diese Rollen sind, umso größer wird das Repertoire für Kinder sein, aus dem sie bei der eigenen Rollendarstellung wählen können. Deswegen ist der bewusste Umgang von Pädagog_innen mit ihren eigenen Inszenierungen von Geschlechterrollen und eine Besetzung von Teams mit Männern und Frauen, die sich auf verschiedene Weise von stereotypen Verhaltensweisen in Bezug auf Geschlecht unterscheiden, eine der wichtigsten Grundlagen geschlechterreflektierter Pädagogik. Das Ziel von geschlechterreflektierter Pädagogik kann also nicht darin bestehen, Geschlechterkategorien aufzulösen – das wäre ein Kampf gegen Windmühlen, der nur zu verlieren ist. Vielmehr muss es darum gehen, die Bedeutung der Geschlechtszugehörigkeit für die Identitätsbildung bei Kindern anzuerkennen, ihnen jedoch vielfältige, auch geschlechtsuntypische Erfahrungen zu ermöglichen, damit sie ihre Geschlechterinszenierungen ebenso vielfältig wie selbstbestimmt gestalten können und als Junge oder Mädchen so sein können, wie sie gern Junge oder Mädchen sein möchten - verschieden, vielfältig und frei von einengenden geschlechterstereotypen Vorgaben oder Zuschreibungen.

Zum Weiterlesen: Rohrmann, Tim (2012): Gender in der Praxis von Kindertageseinrichtungen. In: Koordinationsstelle „Männer in Kitas“ (Hrsg.): Männer in Kitas, Berlin, 2012, S.219-232

Erstmals erschienen im 6. Infobrief "Männer in Elterninitiativen und Kinderläden" des Projektstandorts Berlin, Oktober 2012